
TEXT Betül Pehlivan / FOTOS Mike Schäfer
AKTUELLES
Kunst als Brücke
Ein Jahr voller Kunst, neuen Begegnungen und inspirierender Geschichten liegen hinter der Quartierskünstlerin Ji Hyung Nam. Seit dem Start ihres Stipendiums der SAGA GWG Stiftung Nachbarschaft hat sie den Dulsberg in eine Bühne verwandelt und mit ihren Performances neue Perspektiven eröffnet. Nun blickt sie zurück und gibt einen Ausblick auf das, was noch kommt.
Auf der Schaufensterbühne in der Straßburger Straße 30 leuchtet warmes Licht. In der Mitte des Raumes steht ein großer Tisch, dahinter eine Staffelei mit Gemälden und ein Regal mit Fotoalben, Gläser mit Pinseln und eine Mischplatte für Farben. Alte Familienfotos, Zeitungsausschnitte und fertige Gemälde schmücken die Wände. Für ihre vierte Performance der Reihe „Das Leben ist Kunst“ hat Ji Hyung Nam die Schaufensterbühne in das Atelier der 83-Jährigen Regina Schmolke verwandelt. Vor ein paar Tagen haben sich Zuschauer vor dem Schaufenster versammelt und der Geschichte der ehemaligen Krankenschwester gelauscht, die sich mit Begeisterung in die Kunst verliebte und heute wegen einer Lähmung an der Hand nicht mehr malen kann.
So war es auch vor einem Jahr, als alles begann. Und so ist es immer noch – nur dass sich seither vieles geändert hat. Die Bühne ist im Stadtteil bekannt, die Zuschauenden sind zahlreicher geworden und die persönlichen Geschichten aus dem Leben der Bewohnerinnen und Bewohner auf dem Dulsberg haben hier einen festen Platz gefunden. Mit ihrer eigenen Geschichte stellte sich die Quartierkünstlerin vor zwölf Monaten dem Stadtteil vor. Erzählte vom Aufwachsen in Seoul, ihrem Umzug nach Deutschland und ihrer Begeisterung für die Bühne. Heute arbeitet sie an den großen Theatern in Deutschland und gestaltet Bühnenbilder für Stücke wie „Die Möglichkeit des Bösen“, gewinnt Preise. Doch eins fehlt ihr: „Nach den Aufführungen haben Bühnen- und Kostümbildner keine Möglichkeit zur Interaktion mit dem Publikum“, sagte sie vor einem Jahr. Ihr Ziel: Während ihres Stipendiums mit den Besucherinnen und Besuchern über ihre Arbeit sprechen.

Ji Hyung Nam als Regina Schmolke




Und das hat Ji Hyung Nam mit ihrer Bühnenkunst geschafft. Sie blickt zurück auf Monate voller Begegnungen. „Ich habe Menschen zwischen sieben und 83 Jahren getroffen. Schülerinnen, Mütter, Pastoren oder Marketingexperten waren darunter“, erzählt sie. Viele Menschen vom Dulsberg teilten mit der Künstlerin ihre Lebensgeschichte. Einige davon brachte sie bereits im Rahmen ihrer Reihe „Das Leben ist Kunst“ auf die Bühne.
Und eins findet die Quartierskünstlerin während ihrer Zeit auf dem Dulsberg schnell heraus. Im Stadtteil gibt es viele Menschen, deren Herz für die Kunst schlägt. „Der Stadtteil selbst ist durchwoben von Kunst. Es gibt hier viele Kulturveranstaltungen, der Kulturhof Dulsberg ist im Stadtteil aktiv und jedes Jahr findet die Freiluftausstellung „Kunst im Hof“ statt“, erzählt sie. Oft dient ihr bei den Begegnungen die Kunst als Brücke, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Bei einer solchen Ausstellung lernt sie den Fotografen Michael Goerner und viele andere Kunstschaffende kennen. Diesen Künstlerinnen und Künstlern möchte Ji Hyung Nam eine Plattform geben. Sofort entsteht eine spontane Idee für die neue Reihe „Kunstmarathon auf’m Dulsberg“. Jeden Monat zeigen Künstlerinnen und Künstler im Atelier der Quartierskünstlerin ihre Werke. Drei Ausstellungen haben bereits stattgefunden. Bald folgt eine Ausstellung mit Kindermalereien von zwei Grundschülerinnen. Ji Hyung Nam zeigt: Kunst hat keine Grenzen.
„Mein persönlicher Horizont hat sich über das Jahr enorm geweitet. Ich habe gelernt, meinen eigenen Perfektionismus loszulassen“, sagt sie und lacht. Hinter ihr liegt ein Jahr voller neuer Freundschaften, ungeahnter Perspektiven auf Kunst und emotionaler Arbeit. Den Abschluss ihres zweiten Jahres auf dem Dulsberg bildet eine Märchen-Schnitzeljagd, in der anonym gesammelte Geschichten aus dem Stadtteil lebendig werden. Doch noch ist ihre Zeit nicht vorbei. Die vierte Performance läuft, eine letzte folgt und der Kunstmarathon geht weiter - und Dulsberg bleibt eine Bühne für Kunst.
Ji Hyung Nam
Nach einem Studium der Innenarchitektur im südkoreanischen Seoul absolvierte Ji Hyung Nam ein Bühnen- und Kostümbildstudium an der Akademie der Bildenden Künste in München als Meisterschülerin unter Professorin Katrin Brack. 2017 erhielt Ji Hyung Nam für ihr Szenenbild der deutschen Comedy-Serie Produktion „Technically Single“ den Best Production Design Award beim Melbourne WebFest. Für ihr Projekt „Eva, Adam und Birne“ erhielt sie 2018 den START-UP Junge Künstlerin Preis des Europäischen Patentamts. Ihre Arbeiten waren unter anderem an den Münchner Kammerspielen, am Staatsschauspielhaus Dresden und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen.