TITELGESCHICHTE
Weltquartier
Vor rund zehn Jahren hat die SAGA das "Weltquartier" in Wilhelmsburg fertiggestellt.
Die WIR gemeinsam hat damals über die große Modernisierung und das Leben im Quartier berichtet. Wie hat sich das Leben dort seither entwickelt und wie geht es den Bewohnerinnen und Bewohnern heute? Wir haben sie wieder besucht.
TEXT Rainer Müller / FOTOS Cornelius Braun
Auf dem Weimarer Platz ist mittags schon einiges los. Vor der Eisdiele in der Platzmitte bleiben die ersten Kinder stehen und überlegen, welche Sorte sie heute wohl essen. Direkt nebenan sitzen vor dem „Café Gegenüber“ viele Wilhelmsburgerinnen und Wilhelmsburger in der Sonne und lassen sich das Mittagessen schmecken.
Drinnen ist das Lokal im gemütlichen Vintage-Stil eingerichtet und es gibt Kaffeespezialitäten wie in den Szeneläden im Schanzenviertel. Hafermilch und Hipster Flair im Weltquartier? Als wir zuletzt über das Quartier berichteten, gab es die Eisdiele und das Café noch nicht. Damals wurde das Richtfest für den letzten Bauabschnitt gefeiert. Bis dahin eines der größten Modernisierungs- und Neubauvorhaben in der Geschichte der SAGA.
Mehr als 1.500 Mieterinnen und Mieter wurden damals vorübergehend umquartiert, bekamen eine Ersatzwohnung und konnten nach der Modernisierung wieder zurückziehen. So wie Karin Corleis. Heute ist sie 72 Jahre alt und lebt seit mehr als 50 Jahren in derselben Wohnung. Nur während der Modernisierung lebte sie für zwei Jahre in einem anderen Viertel in Wilhelmsburg. „Als ich in meine Wohnung zurückkam, habe ich sie kaum wiedererkannt“, sagt die Rentnerin. „Heute gefällt sie mir viel besser als früher.“ Aus ihrem kleinen Balkon ist eine große Loggia geworden und die gesamte Wohnung so viel größer, dass ihr Verlobter Adolf Löffelmann bei ihr einziehen konnte. Der heute 86-Jährige hatte ebenfalls eine kleine Wohnung in der Nachbarschaft – und wohnt nun seit unglaublichen 80 Jahren im Quartier.
Insgesamt hat die SAGA damals rund 800 Wohnungen umfassend modernisiert oder neu gebaut, Dachgeschosse zu Wohnungen aufgestockt und kleine Wohnungen zusammengelegt oder wie bei Karin Corleis und Adolf Löffelmann durch den Anbau von Loggien vergrößert. Einige Häuser wurden abgerissen und durch moderne, aber von der Architektur her passende Häuser ersetzt – wie im Norden des Quartiers an der Neuhöfer Straße nahe dem „Energiebunker“, der das gesamte Weltquartier mit umweltfreundlicher Wärmeenergie versorgt. Sowohl die modernisierten Altbauten als auch die Neubauten erhielten gleich mehrere Architekturpreise und gelten bis heute als vorbildlich.
Beliebter Treffpunkt: das Café Gegenüber.
Karin Corleis lebt gerne im Weltquartier.
Rund 800 Wohnungen wurden umfassenden modernisiert oder neu gebaut
Auch für Marzena Anna und Jaroslaw Zwierucho ist das Weltquartier eine runderneuerte und doch vertraute Heimat geblieben. Das Ehepaar aus Polen besuchten wir schon einmalvor fast zehn Jahren. Seit 1999 wohnen sie jetzt hier im Quartier. „Wir konnten wählen, ob wir in eine Wohnung in den Neubauten oder in eine umgebaute Wohnung in den alten Häusern ziehen wollen“, erinnert sich Jaroslaw Zwierucho, der als Industriemechaniker im Hafen arbeitet. „Die umgebauten Wohnungen haben uns so überzeugt, dass wir uns dafür entschieden haben.“ Es ist eine Erdgeschosswohnung mit kleinem Garten und direktem Zugang zu dem parkartigen Innenhof. Dort treffen wir die Eheleute.
Der Garten hat sich seit unserem ersten Besuch ganz schön verändert. Die Hecken sind in den zehn Jahren ordentlich gewachsen und Jaroslaw Zwierucho hat zahlreiche Skulpturen, Windspiele und Gartenleuchten aufgebaut. „Ein echter Hingucker!“, wie er sagt. Viele Nachbarinnen und Nachbarn haben ihre Gärten und Balkone liebevoll und unverwechselbar gestaltet. „Aber das Beste ist der grüne Innenhof“, schwärmt die Altenpflegerin Marzena Anna Zwierucho.
Sabine de Buhr erinnert sich noch gut an die Überlegungen, die der Umgestaltung vorausgingen. Sie arbeitet noch immer bei der IBA Hamburg, einer Nachfolgegesellschaft der Internationalen Bauausstellung, die damals in Wilhelmsburg stattfand. „Wir hatten Studierende zu den Bewohnenden geschickt und sie nach ihren Wünschen gefragt.“ Ein Ergebnis: mehr Grün, Spielplätze, Sitzgelegenheiten und Treffpunkte. Wer heute durch das Weltquartier läuft, sieht, dass sehr viele Ideen der Menschen umgesetzt wurden. Nicht nur die Gartenhöfe hat die SAGA aufgewertet, Spielplätze und Sitzgruppen errichtet, auch vor den Hauseingängen stehen jetzt ein oder zwei Sitzbänke, auf denen viele ältere Bewohnerinnen und Bewohner gerne sitzen und ein Schwätzchen halten.
Wir haben viele Ideen der Menschen umgesetzt
Sabine de Buhr, IBA Hamburg
Jaroslaw Zwierucho baut die Skulpturen für seinen Garten selbst.
Rund 110 Millionen Euro kostete die aufwändige Modernisierung damals. Die Mittel kamen von der SAGA, aber auch von der Internationalen Bauausstellung und aus verschiedenen Fördertöpfen der Stadt.
„Das Weltquartier hieß damals noch nicht so“, erklärt Sabine de Buhr, die das Projekt bei der Internationalen Bauausstellung geleitet hat. „Den Namen bekam das Quartier, weil hier Menschen aus über 30 Nationen wohnten. Wir wollten, dass sich alle hier zuhause und willkommen fühlen.“
Das hat offensichtlich funktioniert. Der Spielplatz im Gartenhof wird von Kindern aus Familien mit und ohne Migrationsgeschichte gut angenommen. „Nachmittags ist hier immer Leben“, sagt Jaroslaw Zwierucho, der von seiner Wohnung auf den Spielplatz blickt. „Nach der Schule kommen alle Kinder hier reingeströmt und spielen. Das ist toll.“
Auch die soziale Infrastruktur war damals Teil der Neugestaltung des Quartiers. Für Projektpartner wie die SAGA-Tochtergesellschaft ProQuartier, den Türkischen Elternbund und den Verein „Der Hafen“ für psychosoziale Hilfe baute die IBA damals am Weimarer Platz einen Pavillon, der als Nachbarschaftscafé und Treffpunkt diente. Heute ist hier ein sozialer Träger etabliert und bietet Kurse und Hilfsangebote. „Der Hafen“ betreibt sein Café jetzt direkt gegenüber – daher der Name „Café Gegenüber“. Hinter dem Tresen steht Benjamin Bosak und erklärt das Konzept: „Unser Café ist ein Arbeits- und Beschäftigungsprojekt für Menschen mit seelischen Erkrankungen. Als Gäste sind uns alle willkommen.“ In der Nachbarschaft ist das Café beliebt, das Mittagessen günstig, und wer ein geringes Einkommen hat, zahlt sogar nur die Hälfte.
Der Innenhof im Weltquartier.
Das Weltquartier ist enorm aufgewertet worden – aber die Wohnungen sind immer noch bezahlbar. „Unser Slogan damals war ‚Aufwertung ohne Verdrängung‘“, sagt Sabine de Buhr. „Das Konzept ist voll aufgegangen.“ Die Leiterin der SAGA-Geschäftsstelle in Wilhelmsburg, Ljudmila Hermoni, kann das bestätigen. „Viele der Bewohnerinnen und Bewohner sind nach der Modernisierung zurückgekehrt, die Mieten liegen immer noch bei sehr günstigen 6,70 Euro je Quadratmeter.“ Aber das Weltquartier ist auch attraktiv für neue Bewohnerinnen und Bewohner. „Auf der Straße sehe ich immer wieder neue Gesichter, auch junge Familien,“ sagt Rentnerin Karin Corleis.
Viele davon sind jetzt auf dem Weimarer Platz anzutreffen, der „guten Stube“ des Weltquartiers. Mittlerweile ist Nachmittag. Vor der Eisdiele herrscht großes Gedränge. Günther Schmidt steigt deshalb vorsichtshalber von seinem Fahrrad. An seiner Arbeitskleidung und dem großen Logo auf dem Fahrrad ist er gut als SAGA-Hauswart zu erkennen. Er und sein Kollege haben ihr Büro direkt am Weimarer Platz – optimal gelegen für die rund 2.000 Mieterinnen und Mieter.